"Hatte ich gewusst, dass ein Sturm kommt? Und vorher noch ein Gedicht geschrieben, anstatt die Segel einzuholen? Das ergab wenig Sinn. Ich las trotzdem weiter:
Wenn der erste
Donnerschlag dem Blitze folgt,
wirst du besorgt zum Himmel blicken?
Wo Wolken sich wie Berge auftürmen.
Riesen am Horizont, ..."
Zuerst bemerkte ich ein leises Geräusch. Mein Kopf brauchte eine Weile, um es einordnen zu können. Ein leises Plätschern, wie ein Bach. Nein, schwächer. Wie träge Wellen, wenn der Wind müde ist. Ich brauchte noch eine weitere Weile, um meine schweren Augenlieder zu öffnen. Nur um sie gleich wieder zu schließen, da die Helligkeit, in die ich blickte, wie eine Explosion auf meine Netzhaut traf. Beim zweiten Versuch klappte es schon besser und beim dritten Mal schaffte ich es tatsächlich, etwas von dem einzufangen, was um mich herum zu sein schien. Ein Stück blauer Himmel, an dem Vögel in der Ferne ihre Kreise zogen. Als ich mich genauer umzublicken begann, vervollständigten sich auf den ersten Blick seltsame Einzelheiten zu einem Gesamtbild, welches einen Sinn ergab, mich jedoch gleichzeitig irritierte. Ein Boot, besser ein Schiff. Ich konnte mich nicht erinnern hierhergekommen zu sein. Mir fiel auf, dass ich mich an gar nichts erinnern konnte. Seltsamerweise beunruhigte mich das nicht. Es war ein sehr altmodisches Segelschiff, wie aus einem Piratenabenteuer. Doch es schien nicht mehr sonderlich intakt zu sein. Das Segel lag in schlaffen Fetzen auf dem Deck, die Takelage war zerrissen, verheddert in herumliegenden Trümmern, welche wohl einmal der Mast gewesen waren. Er hatte beim Umfallen Löcher in das Deck gerissen, die Reling klaffte auseinander wie ein aufgebogener Maschendrahtzaun. Überall lagen Dinge verstreut. Scherben zeugten von der vergangenen Existenz einiger Flaschen und ein Stuhl mit nur noch drei Beinen lag in der Ecke. Ich wunderte mich nicht über einen Stuhl an Bord eines Segelschiffes, noch nicht. Zuerst galt es, mich zu erinnern. Was war geschehen? Ich versuchte meinen Körper dazu zu bringen, sich aufzusetzen. Spürte das raue Holz unter mir auf nackter, verschrammter Haut. Auch meine Kleidung bestand nur noch aus Fetzen. Meine Muskeln rebellierten vor Schmerzen, doch ich zwang sie, meinen Körper in eine aufrechte Position zu bringen. Dabei bemerkte ich, dass meine Hand einen Zettel fest umschlossen hielt. Vorsichtig öffnete ich meine Faust und entfaltete das Stück Papier. Krakelige Buchstaben erschienen vor meinen Augen, wie in Eile geschrieben, an manchen Stellen war die Schrift verwischt, vermutlich vom Regen. Denn dass hier ein Sturm gewütet hatte, war unübersehbar. Ich konnte mich nur nicht daran erinnern. Worte tanzten vor meinen Augen, ergaben nach kurzem ordnen eine Reihenfolge. Aber einen Sinn?
Wenn die See zu stürmisch wird,
wirst du dich umblicken?
Suchend nach der Sonne, welche hinter dir
ihre warmen Finger nach deinem Herzen ausstreckt.
Wirst du dich umblicken?
Es war ein Gedicht. Oder so etwas in der Art. Hatte ich es geschrieben? Nicht dass ich mich erinnerte. Hatte ich - oder der Verfasser – gewusst, dass ein Sturm kommt? Und vorher noch ein Gedicht
geschrieben, anstatt die Segel einzuholen? Das ergab wenig Sinn. Ich las trotzdem weiter.
Wenn der erste Donnerschlag dem Blitze folgt,
wirst du besorgt zum Himmel blicken?
Wo Wolken sich wie Berge auftürmen.
Riesen am Horizont,
Soldaten in der Schlacht
Auf einmal durchfuhr es mich wie der Blitz im Gedicht. Die Erinnerung. Ein Fetzen davon jedenfalls. Zerfetzt wie das
Segel. Es kamen keine Bilder und auch keine Worte, nur Gefühle. Vorerst.
Wenn der Regen beginnt, den Sturm zu untermalen
und eine Kälte hinterlässt,
welche nicht zu vertreiben ist,
wirst du beginnen, dich zu sorgen,
dass es schlimmer werden wird?
Ja. Ich hatte mich gesorgt, jedenfalls damit begonnen. Besorgt hatte ich die Wolken beobachtet, welche am Horizont erschienen. Ich hatte sie ignoriert, mir gesagt es sei wohl nicht so schlimm. Hatte die Stimme zum Schweigen gebracht, welche Vorkehrungen treffen wollte. Doch die Wolken wuchsen unaufhörlich in meinem Rücken, nachdem ich mich abgewandt hatte. Ich wusste es und wollte es nicht wahrhaben. Doch auch die Stimme wuchs, es wurde immer schwieriger, sie still zu halten, bis sie erst wieder hervorbrach, als ich mich schon an den Regen gewöhnt hatte.
Wenn die Angst wie die Wellen über dich hereinbricht –
Oh ja! Es war die Angst. Die Stimme. Ich hatte Angst gehabt, fühlte es in der Erinnerung, fühlte ihren Nachhall im Herzen.
Gegen die Angst zu kämpfen, war dumm gewesen. So dumm. Denn gewinnen kann man dabei nicht.
Wenn die Angst wie die Wellen über dich hereinbricht,
wirst du weinen?
Wirst du die Angst zulassen?
Oder bleibst du stumm,
kämpfst weiter,
die Zähne fest aufeinander gepresst,
dir nicht anmerken lassend, was du fühlst?
Wenn das Segel reißt,
wirst du weinen?
Ich weiß es nicht, hatte ich geweint? Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. Salzig.
Werden die Tränen sich mit der Gischt auf deinen Wangen mischen
oder bleiben deine Augen stumm?
Ich war stumm geblieben, hatte weiter gekämpft, mit verbissenem Gesicht und schmerzenden Zähnen. Ich hatte gekämpft. Doch
das Salz auf den Lippen. - Das Segel war gerissen. Mit einem Mal hatte ich den Halt verloren. Kam nicht voran ohne Segel und der Wind hatte versucht, mich zu Boden zu bringen. Meinen Wunden auf
der Haut und der Position, in der ich aufgewacht war, nach zu urteilen, hatte er es auch geschafft. Was war noch passiert?
Wenn der Schaum auf den Wellen
wie Fangzähne in der Nacht aufblitzt,
wirst du einen Stift in die Hand nehmen?
Wirst du schreiben,
um deine Angst zu erklären?
Denen, die du liebst,
einen Brief zu hinterlassen?
Ich betrachtete den Zettel. Anscheinend hatte ich geschrieben. Aber das war kein Abschiedsbrief an geliebte Menschen, war
das überhaupt meine Handschrift? Was, wenn die verwischten Buchstaben gar nicht vom Regen kamen? War das hier mein Abschiedsbrief? Oder nur die gesuchte Antwort auf die Frage, ob ein
Abschiedsbrief nötig sei? Auf einmal wurde mein Körper von Schmerzen durchströmt. Ich schrie auf. Es tat so weh! Doch ich wusste, es war nur die Erinnerung, es war nicht echt, jedenfalls nicht in
der Gegenwart. Ich hatte gekämpft. Und wie ich gekämpft hatte! Im Zwiespalt mit mir selber, ob ich den Sturm gewähren lassen sollte oder nicht. Ein Teil wollte aufgeben, nichts anderes als liegen
bleiben und mein Ende abwarten, dem Schicksal seinen Lauf lassen. Doch ein anderer Teil wollte leben. Vielleicht war er mit der Angst verbündet. Sie hatten sich zusammengetan und die Oberhand
gewonnen, denn hier war ich ja. In einem Trümmerhaufen zwar, doch am Leben. Nur der Weg dahin war voller Schmerzen gewesen, voll von Leid, und mein Herz erinnerte sich daran. Die Verletzungen
waren noch nicht geheilt. Ein Kampf um Leben und Tod.
Wenn die See ihren Schlund öffnet,
um sich dich einzuverleiben,
wirst du beten?
Zu einem Gott, dessen Existenz dir unverständlich bleibt?
Wirst du beten,
dass du am Leben bleibst?
Was nützte Beten gegen einen Sturm? Ich glaubte wohl nicht an Gott. Trotzdem hatte ich gebetet. Oder wenigstens gebeten,
wen das wusste ich selber nicht. In dunklen Ecken hatte ich mich vor den Blitzen versteckt und eine höhere Macht angefleht, dass es aufhöre. Dann wieder mitten im Sturm, als der Wind an meinen
Haaren gezerrt hatte, selbigen angeschrien, doch endlich von mir abzulassen. Durchnässt und ohne Kraft, dem Regen zugeflüstert, dass ich nicht mehr kann. Ja ich hatte gebetet, doch nicht an eine
höhere Macht geglaubt. Um Hilfe gebeten habe ich nicht. Wen auch? Es war ja niemand da. Ich hatte sie vorher alle über Bord geworfen. Obwohl ich sie liebte.
Wenn der Mast bricht
wirst du dir wünschen,
dass es endlich ein Ende hat?
Wenn das Bersten des Holzes
lauter als der Donner in deinen Ohren
vom Ende spricht,
wirst du es dir herbeisehnen?
Wenn alles verloren ist,
wirst du noch Hoffnung haben?
Ich betrachtete den Mast, wie er gebrochen auf dem Deck lag. Holzsplitter auf dem ganzen Schiff verteilt, einige steckten
in meinen Gliedmaßen. Komisch, dass ich das vorher nicht bemerkt hatte. Es schmerzte nicht. Nur in der Erinnerung. Ich hatte gesehnt, gewünscht und erbettelt. Dass das Ende endlich kommen möge.
Die Erinnerung ließ mir die Schamesröte ins Gesicht steigen. Ich war ein Häufchen Elend gewesen, nachdem der Mast gekippt war und ich das Schiff keineswegs mehr unter Kontrolle hatte. Ich hatte
sterben wollte, ja. Ich hatte gewollt, dass die Tiefen des Wassers mich verschlingen, mich der Tod in seine dunklen Arme nimmt. Als die Splitter mir in der Haut steckten und ich mich selbst nicht
mehr betrachten mochte, als der Lärm des brechenden Mastes mich zu Fall gebracht hatte, da wollte ich nicht weiter leben. Ich blickte mich erneut um. Warum war ich dann noch hier? Wenn mein
Wunsch zu sterben, doch so groß gewesen war? Die zersplitterten Flaschen. Jede Scherbe hätte es sein können, die mich von meinem Leid befreit. Die Takelage, jedes Stück Seil hatte mein lächelnder
Galgen werden können. Die Tablettenschachtel neben dem zerbrochenen Stuhl. Sie war nicht stark genug gewesen. Ich hatte aufgeben wollen, doch viel lieber wollte ich wohl leben. Ich weiß nicht,
was es war, das mich gerettet hatte. Der Sturm hatte mich zu Fall gebracht, ja. Doch er hat mich nicht verschlungen, wie ich befürchtet hatte. Ich suchte in den Trümmern nach einem Anhaltspunkt.
Nach einem Stück Erinnerung. Ich wollte wissen, was meine Hoffnung am Leben gehalten hatte.
Und wenn die Wolken sich allmählich wieder öffnen,
wenn die Sonne ihre warmen Finger
erneut über dein Gesicht streichen lässt.
wirst du dann noch da sein?
Wenn die Wellen ihre Wut ausgelassen haben
und sanft und erschöpft
vor sich hin wiegen,
wirst du den Sturm überlebt haben?
Wenn der blaue Himmel
den Blick auf das hinterlassene Chaos frei gibt,
wirst du daran glauben, dass du es wieder ordnen kannst?
Wirst du dich trauen, wieder an das Gute in der Welt zu glauben?
Das Gedicht war zu Ende. Wie konnte der Verfasser vorher wissen, wie es werden würde? Naja, sagte ich mir, er wusste es
nicht. Er wusste, dass es zwei Möglichkeiten gibt und er hat dich gefragt, für welche von beiden du dich entscheiden würdest. Ich blickte zum blauen Himmel an dem noch immer die Vögel kreisten.
Die Sonne wärmte meinen Körper, strich sanft über mein Gesicht. Ich hatte mich entschieden. Ich stand auf und begann die Scherben aufzusammeln. Räumte die Holzsplitter auf einen Haufen und zog
die restlichen aus meiner Haut. Ich entknotete die Takelage und nähte die Überreste des Segels ordentlich zusammen. Ich reparierte die Reling und auch das Steuer. Natürlich dauerte es eine ganz
schöne Weile, bis alles wieder an seinem Platz und repariert war, doch ich erledigte es gründlich und gewissenhaft. Währenddessen ließ mich die Frage nicht los, warum ich das tat. Ich hielt beim
Aufräumen Ausschau nach dem Grund meines Überlebens. Ich fand nichts, doch als das Steuer wieder heile war, war das auch nicht mehr wichtig. Ich konnte wieder fahren, auf zu neuen Ufern, den Wind
im Rücken, die Sonne im Gesicht.
Zuerst bemerkte ich ein leises Geräusch. Mein Kopf brauchte eine Weile um es einordnen zu können. Es war ein leises Ticken. Wie von einer Uhr. Nein leiser. Es war mein Wecker. Ich brauchte noch eine weitere Weile, um meine schweren Augenlieder zu öffnen. Es war dunkel. Meine Augen gewöhnten sich nur schwer an das Dämmerlicht, doch langsam zeichneten sich Schatten und Umrisse ab. Als ich mich genauer umzublicken begann, vervollständigten sich auf den ersten Blick seltsame Einzelheiten zu einem Gesamtbild, welches einen Sinn ergab, mich jedoch gleichzeitig irritierte. Ein Zimmer. War ich nicht noch eben auf einem Schiff gewesen? Doch das Zimmer schien nicht sonderlich ordentlich zu sein. Die Matratze lag nur halb im Bettgestell, der Schreibtisch war umgeworfen und alles darauf Befindliche auf dem Fußboden zerstreut. Zerfetzte Klamotten und der gesprungene Bildschirm eines Laptops zeugten von Wutanfällen. Ein Stuhl mit drei Beinen lag neben zersprungenen Bierflaschen. Das Blut an den Scherben des Spiegels ließ sich auch an meiner geschwollenen Faust wiederfinden, welche einen Zettel fest umklammert hielt. Ich versuchte meinen Körper dazu zu bringen, sich aufzusetzen. Als ich das Blatt Papier entfaltete, wusste ich was mich erwartete. Es war kein Abschiedsbrief. Fragen an den Seemann hieß das Gedicht, welches ich an meinem Tiefpunkt geschrieben hatte. Den Füller noch in der Hand, den salzigen Geschmack noch auf der Zunge, blickte ich mich erneut in meinem Zimmer um. An der Wand hingen Fotos mit Gesichtern, an welche ich mich allmählich wieder erinnerte, sie waren wohl nicht in meinen Wellen ertrunken. Darüber hatte ich das Wort Hoffnung geschrieben. Ich stand auf, wischte das Fragezeichen dahinter weg und betrachtete mein Chaos. Ich wusste, was zu tun war.